Mit der neuen Porträt-Reihe „Stimmen der Bildmacher – Fotografen im Dialog“ rückt mein Blog die Menschen hinter der Kamera ins Licht: Was treibt Fotojournalisten an, welche ethischen Fragen bewegen sie und wie bereiten sie sich auf die oft gefährlichen Auslandseinsätze vor? Den Auftakt macht der aus Hamburg stammende Fotojournalist Jan Schneidereit. Mit der Canon 5d dokumentiert er den Krieg in der Ukraine – ungeschönt, nah am Menschen, ohne Inszenierung. Dieses Porträt zeichnet das Bild eines mutigen Fotojournalisten, der mit ruhiger Hand und großer Nähe den Alltag im Krieg einfängt. Seine Bilder informieren nicht nur, sondern sie berühren, regen zum Nachdenken an – und genau das ist Schneidereits Intention, gepaart mit dem Anspruch auf Wahrhaftigkeit. Sein Ziel: Die Realität abbilden.
Die Spitze der Zigarette glimmt kurz auf, ein leises Knistern in der Stille. Jan Schneidereit lehnt sich zurück, zieht tief daran, als wolle er sich einen Moment mehr Zeit verschaffen. Dann pustet er den Rauch langsam aus der Nase wieder aus, grauer Nebel vor seinem Gesicht. Er hebt seinen Kaffeebecher, nimmt einen kleinen Schluck, stellt ihn geräuschlos wieder ab. Seine Stimme ist ruhig, gelassen – aber in jedem Wort liegt Gewicht:
„Wir sind der Wahrheit verpflichtet, und ich gehe davon aus, dass Fotojournalisten alles dafür tun, dass ihre Bilder gut und vor allem eben wahr sind. Fotografie ist für mich mehr als einfach nur Fotos machen – sie ist mein Instrument, um Zeitgeschichte zu dokumentieren.“ Sein ständiger Begleiter dabei: Die robuste, vielfach erprobte Canon 5D, die ihm längst wie eine Verlängerung der eigenen Wahrnehmung erscheint. Dazu ein Sortiment an Objektiven – aber sein Herz gehört der 50mm-Festbrennweite. Unaufdringlich, nah dran, ideal für die Art dokumentarischer Fotografie, die Schneidereit mit Präzision und Haltung betreibt.
Erste Einsätze in der Ukraine: Zwischen Risiko und Nähe
Mit dieser Kamera war Schneidereit bereits mehrfach im Auslandseinsatz – dreimal führte sie ihn in die Ukraine. Dort entstanden eindringliche, emotional aufgeladene Bilder, die mehr zeigen als nur den Moment: Sie erzählen vom Menschlichen im Krieg. Wenn Schneidereit von diesen Projekten spricht, spürt man schnell, dass es ihm nicht nur um Fotografie geht. Es sind die Geschichten hinter den Bildern, die Gesichter, die Schicksale – sie haben sich eingeprägt. Und sie lassen ihn nicht los.
Das Gesicht des Krieges: Geschichten hinter den Bildern
„Mein erster Aufenthalt in der Ukraine im März 2022 war eigentlich ungeplant“, erzählt er. „Ich habe in Krakau als Fixer für den amerikanischen Journalisten Sevin Matozzi gearbeitet. Unsere gemeinsame Story drehte sich um jüdische Geflüchtete aus der Ukraine, die in Polen von der dortigen jüdischen Gemeinde aufgenommen wurden.“ Im Verlauf der Zusammenarbeit mit Matozzi entstand eine neue Idee: Es wäre sinnvoll, die Geschichte auch von der anderen Seite der Grenze aus zu erzählen – mit Bildern direkt aus der Ukraine. Nur einen Tag später sitzt Schneidereit im Auto, auf dem Weg nach Lwiw, der westukrainischen Stadt nahe der polnischen Grenze. „Es war schwierig, dort zu fotografieren“, erinnert er sich. „Gerade an den Grenzübergängen war das streng verboten, überall standen schwer bewaffnete Soldaten. Ich hatte zwar meinen deutschen Presseausweis dabei, aber keine offizielle Akkreditierung von ukrainischer Seite.“ Trotz aller Einschränkungen entstehen während der zweitägigen Reise rund 200 Bilder – Momentaufnahmen eines Landes im Ausnahmezustand. Schneidereits persönliches Lieblingsmotiv: ein Ortseingangsschild mit Richtungsangaben nach Lwiw und Kiew, umstellt von Sandsäcken und Panzersperren.

„Ich mag dieses Bild so sehr, weil es ganz leise eine Geschichte erzählt“, sagt er. „Der Krieg, das Leid, die Gewalt – all das ist nicht direkt zu sehen. Es schwingt nur mit. Und genau das macht es für mich so stark.“
Unverstellte Realität: Die Kraft starker Bilder
Starke Bilder – das sind für Schneidereit vor allem solche, die aus dem Moment heraus entstehen. Nicht inszeniert, nicht manipuliert, sondern echt. Bilder, die die Realität zeigen, wie sie ist. Wahr, nennt er sie. Seine Leidenschaft für die Fotografie beginnt 2016: Anfang 20 bekommt er von einem Freund eine alte Spiegelreflexkamera geschenkt. Er taucht ein in die Technik, probiert aus, lernt mit jedem Klick. Mit der Canon in der Hand beginnt er, seine Heimatstadt Hamburg mit neuen Augen zu sehen – und zu erzählen.
Vom Studium zur Festanstellung: Der Sprung ins Berufleben
Zu dieser Zeit steckt Schneidereit mitten im Studium zum Kommunikationsdesigner an der Kunstschule Wandsbek in Hamburg – eine breit angelegte Ausbildung, die Fotografie und Film ebenso umfasst wie Werbetext, Marketing und Gestaltung. Im letzten Semester spezialisiert er sich auf Editorial Design. Für seine Abschlussarbeit entwirft er ein Magazin zum Thema Luftfahrt – und schließt das Studium mit 98 Prozent ab. „Klar, da waren auch Inhalte dabei, die keinen großen Spaß gemacht haben“, sagt er rückblickend. „Aber ich habe viel von Grund auf gelernt – vor allem den professionellen Umgang mit dem Adobe-Paket.“ Nach dem Abschluss schreibt er sich an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg für den Studiengang Fotografie ein. Doch das Studium bleibt unvollendet: Nach einigen Semestern bekommt Schneidereit ein Angebot, das er nicht ausschlagen kann – eine Festanstellung bei GEO Epoche, dem Geschichtsmagazin aus dem Verlagshaus Gruner + Jahr.
Gefahr im Fokus: Recherche zu POM-3-Minen
Doch die Erfahrungen, die Schneidereit in der Ukraine gemacht hat, lassen ihn nicht los. Zurück in Hamburg beginnt er zu recherchieren – intensiv, fokussiert. Dabei stößt er auf einen Artikel im Stern, der ihn nachhaltig fasziniert: Es geht um POM-3-Minen, eine moderne, besonders perfide Art von Antipersonenminen, die das russische Militär in der Ukraine einsetzt. „Die POM-3 ist dafür gebaut, möglichst viele Menschen zu töten“, erklärt Schneidereit, während er sich eine weitere Zigarette anzündet. „Sie kann per Hand gelegt oder aus Flugzeugen und Raketen abgeworfen werden.“ Eine Frage drängt sich ihm während seiner Recherchen immer wieder auf: Wer räumt diese Minen – und wie?
Begleitung von Minenräumern: Leben am Limit
Über Instagram stößt er schließlich auf eine Gruppe von Freiwilligen, die sich auf genau diese gefährliche Aufgabe spezialisiert haben. Schneidereit nimmt Kontakt auf – und bekommt die Möglichkeit, sie bei einem Einsatz in der Ukraine zu begleiten. „Insgesamt waren wir vier Tage unterwegs, es sind rund 2.000 Bilder entstanden“, erzählt er. „Es war ein extrem intensiver Einsatz. Je näher wir der russischen Grenze kamen, desto unruhiger wurde ich. Wir fuhren in einem Konvoi, und mir wurde immer wieder gesagt: ‘Behalte den Horizont im Blick – wenn du Rauch oder sich bewegende Objekte siehst, sag sofort Bescheid.’“

Vorbereitung auf den Ernstfall: Schutz und Training
Die entstandenen Bilder verkauft Schneidereit später an Vice und den Stern. Doch wie bereitet sich ein Journalist eigentlich auf einen so gefährlichen Einsatz vor? Üblicherweise absolvieren Medienschaffende, die in Krisengebieten arbeiten, ein sogenanntes „HEAT-Training“ – die Abkürzung steht für „Hostile Environment Awareness Training“. Dabei handelt es sich um eine mehrtägige, militärisch organisierte Vorbereitung, in der verschiedene Gefahrensituationen wie Entführungen, Beschuss oder die Versorgung von Verletzten realitätsnah geübt werden. Doch seit der Corona-Pandemie wird dieses Training in Deutschland nicht mehr angeboten – ein erhebliches Problem. Schneidereit muss sich also anders helfen, er nimmt Kontakt mit der NGO Reporter ohne Grenzen auf, bestellt online Schutzausrüstung: Helm, kugelsichere Weste und robuste Militärstiefel. Gleichzeitig aktiviert er sein persönliches Netzwerk. „Ein Freund von mir war als Rettungssanitäter in der Ukraine im Einsatz und empfahl mir ein Tourniquet-Pack – ein spezieller Gurt, mit dem man Gliedmaßen abbinden kann, um Blutungen zu stoppen. Den Umgang damit habe ich tagelang in meinem Wohnzimmer geübt“, erzählt Schneidereit. Zusätzlich arbeitet er sich in einen 60-seitigen Leitfaden von Reporter ohne Grenzen zu Einsätzen in Kriegsgebieten ein und nimmt an einem vorbereitenden Onlinekurs der Vereinten Nationen teil. Seine Ausrüstung testet er schließlich in einem Waldstück in den Harburger Bergen, um auf den Ernstfall vorbereitet zu sein. Darüber hinaus erstellt Schneidereit einen Chart mit seinen Körpermerkmalen – für den Fall, dass er identifiziert werden muss. Zusätzlich schließt er eine Kurzzeitversicherung speziell für Journalisten ab, die etwa Kosten für einen Krankenhausaufenthalt oder im schlimmsten Fall die Überführung seiner Leiche nach Deutschland abdeckt. „Bei so einem Einsatz hast du keine Kontrolle“, fasst er nüchtern zusammen, „dir kann jederzeit etwas passieren. Sich in Sicherheit zu wiegen, darfst du nie – du musst immer wachsam bleiben.“

Vom Fotografen zum Reporter: Der Einstieg ins journalistische Schreiben
Während seines zweiten Einsatzes in der Ukraine macht Schneidereit sich zahlreiche Notizen auf dem Handy, hält seine Eindrücke und Beobachtungen schriftlich fest – ein wichtiger Schritt in seiner journalistischen Entwicklung. Er berichtet: „Wenn ich meine Bilder an Redaktionen verkauft habe, kam oft die Frage: ‚Hast du auch einen Text dazu?‘ Da musste ich häufig passen. Deshalb beschloss ich, mit dem Schreiben zu beginnen.“ Nach seiner Rückkehr sichtet und ordnet er seine Notizen, verarbeitet sie zu drei eindringlichen Reportagen. Bis heute sind diese Texte zwar unveröffentlicht, doch für Schneidereit haben sie dennoch eine große Bedeutung. „Zum ersten Mal habe ich journalistisch geschrieben und dabei entdeckt, dass mir besonders die Reportage als Erzählform liegt. Auch wenn keine Zeitung oder kein Magazin meine Geschichten gedruckt hat, waren diese Texte ein wertvolles Lehrstück für mich“, ergänzt Schneidereit.

Praktikum und Weiterentwicklung: Die Verbindung von Bild und Wort
Das journalistische Schreiben vertiefte Schneidereit anschließend während eines dreimonatigen Praktikums beim SHZ-Medienhaus in der Redaktion des Pinneberger Tageblatts Anfang 2025. Hier lernte er den Unterschied zwischen Reportage und Feature, übte sich in Interviewtechniken, um die Menschen hinter den Geschichten besser verstehen und authentisch porträtieren zu können. Von offenen Fragen bis zum sensiblen Umgang mit schwierigen Themen – diese Fähigkeiten erweiterten sein journalistisches Handwerkszeug erheblich. Das Praktikum bot ihm dabei nicht nur die Gelegenheit, seine Schreibfähigkeiten zu verbessern, sondern auch, sich mit dem Zusammenspiel von Bild und Text auseinanderzusetzen – eine Kombination, die ihm besonders am Herzen liegt. Das journalistische Handwerkszeug, das Schneidereit in diesem Praktikum vertiefte, setzte er zuvor schon bei seinem dritten Aufenthalt in der Ukraine aktiv ein – eine Zeit, die eben auch seinen Blick für die Verbindung von Bild und Text schärfte.
Zwischen Polizei und Trauma: Begegnung in Kiew
„Ich war mit dem Journalisten Dominik Culverwell im Auftrag des Freien Radios Europa unterwegs für eine Fotoreportage, bei der wir zwölf Stunden mit der Kiewer Polizei unterwegs gewesen sind. Ein Aspekt dieser Geschichte ist mir besonders im Gedächtnis geblieben. Es war der letzte Einsatz an einer Tankstelle.“ An dieser Tankstelle trafen Culverwell und Schneidereit auf einen jungen Ukrainer, verletzt, mit Verbänden um Arme und Beinen, in den Händen Dosenbier. Die beiden Journalisten bemerkten sofort, dass mit dieser Person etwas nicht in Ordnung gewesen ist. Schneidereit erinnert sich: „Es waren vor allem die Augen, an denen ich erkannt habe, dass sich dieser Mann in einem psychischen Ausnahmezustand befand. Wir hatten einen Dolmetscher dabei, dieser erklärte uns, dass vor uns ein Soldat steht, verwundet durch den Einsatz an der Front“, blickt Schneidereit zurück, „er war aus dem Krankenhaus geflüchtet, ganz bewusst während er Ausgangssperre, in der Hoffnung, dass die Polizei in inhaftieren würde, aus dem simplen Grund, dass er unter keinen Umständen zurück in den militärischen Einsatz wollte.“
Respekt vor dem Schmerz: Die Entscheidung gegen das Foto
Diese Begegnung, nachts, an einer Tankstelle mitten in Kiew, in Begleitung der Polizei, bewegt und beschäftigt Schneidereit auch heute noch. „Dieser Mann war zutiefst traumatisiert. Und genau aus diesem Grund habe ich mich dazu entschlossen, nicht auf den Auslöser zu drücken, eben kein Foto zu machen – aus Respekt, aus Anteilnahme. Auch solche Entscheidungen trifft man als Journalist“, begründet Schneidereit seine Entscheidung.

Fotografie als Zeitzeugnis: Wahrheit als Anspruch
Der Journalist zündet sich seine letzte Zigarette während dieses Gespräches an, wieder glimmt die Glut kurz auf, wieder inhaliert er den Rauch tief in seine Lunge, findet dann abschließende Worte: „Für mich ist Fotografie mehr als nur ein Handwerk. Sie ist ein Instrument, das Zeitgeschichte sichtbar macht. Wahrheit ist dabei mein Anspruch.“ Und genau das spürt man in jedem seiner Bilder: keine Inszenierung, sondern echte Geschichten, nah dran am Menschen, ungeschönt und ohne Filter. Es sind Fotos, die nicht nur dokumentieren, sondern vor allem berühren, zum Nachdenken, zur Reflektion anregen. Sie sind somit Zeugnisse einer Welt, die oft im Verborgenen bleibt, und laden dazu ein, genauer hinzusehen. Schneidereit fängt auf diesem Weg mit seiner Canon die Realität ein – roh, ehrlich und unmittelbar.

